Landschaft und Karte werden im kunst- und kulturhistorischen Kontext als konkurrierende Modelle beschrieben. Charakteristisch für Landschaften sei das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz, die Horizontbezogenheit und das vertikale Bildsystem. Im Unterschied und auch in Konkurrenz hierzu stehe die Karte für Überblick und Distanz sowie die Visualisierung von Welt als einem horizontalen Phänomen.1 Postkoloniale Studien und Dekonstruktion lesen Landschaft und Karte nicht getrennt voneinander - vielmehr fragen sie nach dem Dazwischen eines Ortes, dem Entstehungsprozess seiner Aufzeichnung und Darstellung und nach der Eingebundenheit in historische und gesellschaftliche Zusammenhänge.2
In der 1885 veröffentlichten Abenteuergeschichte King Solomon´s Mines von Henry Rider Haggard3 um den legendären Diamantenschatz König Salomons ist eingangs eine vom Erzähler gezeichnete Schatzkarte mit dem Titel The Lay of The Land abgebildet.4 Die Schatzkarte lässt zwei topografische Lagen erkennen: sie zeigt die unwegsame Landschaft im geheimnisvollen afrikanischen Kukuanaland, ist aber auch als Diagramm eines weiblichen Körpers lesbar. Die Teile, die kartiert sind, verweisen auf weibliche Sexualität. In der Erzählung muss die kartierte Landschaft von den Schatzsuchern Station für Station unter Entbehrungen und Gefahren durchquert werden. Die Wanderung der Eroberer beginnt im Süden, in der Nähe eines winzigen Kopfes Pan bad water. In Kartenmitte befinden sich die zwei Bergspitzen Sheba´s Breasts; die Längsachse des Körpers wird von der königlichen Solomons´ Road durchzogen; am Nabel vorbei gelangen sie zum Grabhügel Dark Heather und durch den verbotenen Eingang in die Schatzhöhle Mouth of treasure cave. Die Diamanten werden von der schwarzen Mutter Gagool bewacht, die von den Männern getötet werden muss, bevor sie den Schatz in Besitz nehmen können.
Die Karte und ihre Einbindung in den Abenteuerroman verdeutlicht, wie die Kategorien Klasse, Geschlecht, Sexualität und race im kolonialen Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts verhandelt wurden. Keine dieser Kategorien funktioniert und besteht ohne die anderen. Anne Mc Clintock5 zeigt, dass die Karte auf das verweist, was sie nicht unmittelbar abbildet oder weglässt: Es handelt sich nicht nur um eine verherrlichende Kolonialerzählung, sondern um eine explizit sexualisierte Erzählung mit stereotypen Metaphern in Wort und Bild. Weiße männliche Abenteurer müssen für die Diamanten die fremde, dunkle, weiblich konnotierte Landschaft überwinden. Mit der Karte stattet der Erzähler sich und seine Protagonisten mit Macht aus. Am oberen Rand ist ein Kompass eingezeichnet, der von Mc Clintock als Zeichen für westlichen Fortschritt und Vernunft gelesen wird. Der Kompass macht aus der Landschaftsfrau eine Karte mit Markierungen der neuen kolonialen Ordnung - und wird zum Symbol westlichen Expansionsstrebens.6 Die koloniale Unterdrückung lässt sich an der Karte nachzeichnen. Es ist die Übertragung weißer, westlicher Macht, die Kontrolle kolonisierter Menschen, ihrer Sexualität und ihrer Arbeitskraft, das Auftauchen von Ordnung in Form kulturellen Wissens und die Ausbreitung des Warenkapitalismus. Die Erzählungen von Landschaft und Karte, die in King Solomon´s Mines zirkulieren, greifen so ineinander, dass sie als vielfache Projektionsfläche funktionieren. Sie über- und vermitteln koloniale Ängste vor dem Fremden, Begehrens- und Dominanzwünsche und dienen dem Bedürfnis der Kolonialgesellschaften nach Selbstvergewisserung und Bestätigung. Das Buch war Ende des 19. Jahrhunderts ein Bestseller in England.
Lassen sich über Haggards Schatzkarte Verbindungen zu postkolonialen Gesellschaften herstellen? Was zeigen Karten heute und wie wirkt sich dies auf die Wahrnehmung der Welt aus? Karten tragen dazu bei, dass Sichtweisen und Kategorisierungen als gegeben und normal angesehen und übernommen werden. Kartieren ist machtvolles Handeln, das nicht abtrennbar vom Kartierenden und dem Kartierungsvorgang ist. Philippe Rekacewicz, der Kartograf des Atlas der Globalisierung7 beschreibt seine Kartenerstellung als Wechselspiel zwischen Fakten und Wahrnehmung, in dem der Kartograf Zeitzeuge und Akteur zugleich ist: ‚Er wird also nacheinander zum Beobachter, zum Ökonomen, zum Demografen, zum Geomorphologen usw. und schließlich zum Geografen und zum Künstler. Um ‚seine Welten’ zu erschaffen, oder richtiger: zu erfinden, kommt er am Ende zu einem subtilen Gemisch aus der Welt, wie sie ist und der Welt, wie er sie sich wünscht.’8 Neben dem transdisziplinären Entstehungsprozess wird deutlich, dass Rekacewicz an die Karte den Anspruch der Vollständigkeit und Machbarkeit stellt. Lässt sich der Raum durch eine Karte beherrschen, kann die Karte etwas am Leben ändern? Im Zitat wird sie zum Ausdruck einer Ästhetik, die die Vorstellung eines zu ordnenden Raumes nicht in Frage stellt. Das Dilemma, dass Karten rassistisch und kolonisierend sind, bleibt bestehen.
Die Karten und Wegmarken der Offenen Kartierung (vgl. Abbildungen in diesem Katalog), die bei den mapping_wandsbek_postkolonial-Rundgängen entstanden sind, sehen auf den ersten Blick aus wie Sternbilder. Um sie zu deuten kann, wie bei der Schatzkarte, gefragt werden, was zwischen der Distanz der sternbildartigen Topografie und der Nähe einer Beschreibung einer Wegmarke liegt. Das hat räumlich und begrifflich mit Allem zwischen der so genannten globalen Ordnung, den gesellschaftlichen Bedingungen und dem lokalen Ort zu tun. Ein Navigationsgerät, wie es bei der Offenen Kartierung benutzt wird, um die Rundgänge aufzuzeichnen, ist ein Medium, welches sich dem Dazwischen annähert, es konkreter, vorstellbarer und kommunizierbar macht und auf diese Weise potenziell der kritischen Reflektion öffnet. Global Positioning System (GPS) war zuerst für militärische Zwecke von Bedeutung. Navigation mit GPS basiert auf der Berechnung der Entfernungen zu mindestens drei Satelliten. Aus den Daten ergeben sich ortsbezogene Informationen, bei denen der lokale Kontext eines Objekts, zusammen mit den globalen Bildern der Satelliten zu einer Form von Echtzeitkartografie führt. Die zivile Aneignung des Mediums GPS ist alleine noch nicht gesellschaftskritisch. Entscheidend ist, was, wo, wann, von wem, in welcher Absicht und in welchem Kontext kartiert wird. Es sind nicht Gerät und Methode, sondern die Individuen, ihr Bewusstsein, von dem die Kritik ausgehen und das eine postkoloniale Perspektive herstellen kann.
Alles kann zum Gegenstand des Kartierens werden. Auf einer Karte können alle möglichen (Un)Ordnungen eingezeichnet und verworfen werden, wie z.B. Erlebtes, Handlungen, Aufenthalt, soziales und kulturelles Umfeld. Vieles steht dabei in Wechselwirkung zueinander. Die Karte wird zum Bedeutung stiftenden Medium der Orte und der Menschen. Netze und Anhäufungen von Wegmarken, deren Benennung und Bebilderung, ermöglichen die Dokumentation von Erfahrungszusammenhängen und erlauben, diese räumlich zu lesen und zu durchqueren. Der Prozess des offenen Kartierens erzeugt eine Bedeutungsvielfalt, er ist eine Verdichtung gesellschaftlich-sozialer Aktivitäten und somit ein möglicher Ausgangspunkt von Widerständigkeiten gegen globale wie lokale Ordnungen.
Ist der Blick für das Thema, dessen gesellschaftliche Hintergründe und den Prozess des Kartierens geschärft, wandern die Kartierenden mit Navigationsgerät, Schreibblock und Fotoapparat auf der Suche nach postkolonialen Spuren und der Gegenwart des Kolonialen durch die Straßen Wandsbeks. Vielleicht wird etwas sichtbar, was sonst nicht hätte gesehen werden können. Wünschenswert wäre es, wenn das Otherness-Prinzip - gemeint ist das Sich-Abgrenzen gegen das Andere, Fremde, um sich ihrer/seiner selbst vergewissern und bestätigen zu können - beim Kartieren außer Kraft gesetzt würde. Andernfalls wäre Offenes Kartieren ein Retroprojekt, das jeder und jedem ermöglicht, sich zu verhalten wie die Entdecker_innen und Kolonialist_innen ferner Welten, die doch nichts anderes finden, als sich selbst.
1 Elke Bippus: Landschaft – Karte – Feld. Bremen o. J., S. 7.
2 John Brian Harley: The new nature of maps. Essays in the history of cartography. Baltimore, Md. u.a. 2001.
3 Henry Rider Haggard: King Solomon´s Mines. [Erstv.: London 1885] Oxford u.a. 1989.
4 Ebd.: S. 27.
5 Anne Mc Clintock: Imperial Leather: Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest. New York u.a. 1995, S. 1-18.
6 Ebd.
7 Alain Gresh [u.a.]: Atlas der Globalisierung. Die neuen Daten und Fakten zur Lage der Welt. Berlin 2006.
8 Philippe Rekacewicz: Aus der Werkstatt des Kartografen. In: Alain Gresh [u.a.]: Atlas der Globalisierung. Die neuen Daten und Fakten zur Lage der Welt. Berlin 2006, S. 191. Rekacewicz benutzt ausschließlich die maskulinen Berufsbezeichnungen!